Räumt nach 40 Jahren seinen Schreibtisch – Dr. Bernd Wilhelm hat die IGS ermöglicht und mit seinen Kollegen entscheidend geprägt.
Nach 40 Pädagogenjahren – Dr. Bernd Wilhelm verlässt die IGS am Johannesplatz
Es ist ungewohnt still. Die Flure sind so kinderleer wie der Hof. Ferien. Wir sind auf dem Weg zum Direktorenzimmer der Integrierten Gesamtschule (IGS) am Johannesplatz. Bei unserem letzten Besuch vor wenigen Wochen hatten Schüler und Lehrer zu einem fröhlichen Fest geladen, um Erfurts erstes Neubaugebiet gebührend zu feiern. Vor 50 Jahren begann man hier, Wohnscheiben und Punkthochhäuser zu bauen – und eben die Schule. Damals, als sie noch sehr neu war, begann Dr. Bernd Wilhelm hier als junger Lehrer. Genau 40 Jahre ist das her. Jetzt räumt er seinen Schreibtisch und in wenigen Tagen – am 31. Juli – geht er in Rente. Uns interessiert, was er hinterlässt. Der Reihe nach:
1978 verließ er als Absolvent die Pädagogische Hochschule Mühlhausen und war fortan Lehrer für Biologie und Chemie. Dem regulären Studium hatte er da bereits sechs Forschungssemester angeschlossen, die er mit der erfolgreichen Verteidigung seiner Doktorarbeit abschloss. Das Thema? Hinter einem für ‚Nicht-Biologen’ und ‚Nicht-Chemiker’ kaum erfassbaren Titel verbarg sich das Ziel, Getreideerträge zu erhöhen, um dem Hunger auf der Welt zu Leibe zu rücken. Seinen Forschergeist hat er sich bis heute bewahrt. Und seine Liebe zur Natur. „Um ganz ehrlich zu sein: Ich hatte etwas Bammel vor dem Lehrerberuf, dann aber viel Freude daran.“ – Bernd Wilhelm war Lehrer geworden, weil er nicht Tierarzt werden konnte. In der DDR wurden üblicherweise Fachkräfte in der Anzahl herangebildet, in der sie gebraucht wurden. Tierärzte damals offenkundig weniger als Lehrer. Damit hadert Bernd Wilhelm aber nicht.
Mit einer 6. Klasse startete er in sein Berufsleben. Noch heute trifft er sich gelegentlich mit seinen ersten Schülern. Und die sich auch untereinander, obwohl sie ganz unterschiedliche persönliche Entwicklungen genommen haben. Solchen Zusammenhalt vermisst er heute mitunter. Einen der Gründe hierfür sieht Bernd Wilhelm in der frühen Trennung der Schüler wie sie seit der Wende praktiziert wird. Bereits nach der Grundschule entscheidet sich in den meisten Fällen, welchen Schulabschluss ein Kind anstrebt. „Eine frühe Trennung von Schülern ist nicht nötig und vor allem nicht förderlich.“, vertritt er seinen Standpunkt. auch im Wohngebiet gab es einst eine gute Mischung, was sich wiederum positiv auf die Schule auswirkte.
Die Integrierte Gesamtschule setzt der frühen ‚Entmischung‘ ein wirkungsvolles Konzept entgegen. Hier lernen Kinder, die der Förderung bedürfen ebenso wie solche, die gefordert werden wollen. Was 1991 als Schulversuch startete und von Bernd Wilhelm und seinen engagierten Kollegen maßgeblich vorangetrieben wurde, ist nicht nur längst etabliert, sondern von Schülern, Eltern und Pädagogen hoch geschätzt. Die Kinder kommen aus dem gesamten Stadtgebiet, um hier einen Realschulabschluss oder das Abitur zu machen. „Die Schule kann ein Ort sein, an dem man sich begegnen muss.“, ist Bernd Wilhelm überzeugt: „Auch Kindern mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf.“
Noch lieber wäre ihm gewesen, auch die Klassenstufen eins bis vier in die Schule zu integrieren. Das aber überstieg dann tatsächlich die Gestaltungsmöglichkeiten nach der Wiedervereinigung und erfuhr Ablehnung auf politischer Ebene. Gleiches galt für die Intention, die Schule ökologisch auszurichten.
Nach Kräften gestaltete Bernd Wilhelm – zunächst als von der Schulkonferenz 1990 gewählter, späterhin vom Schulamt bestätigter Schulleiter – mit seinem Kollegium dann aber vor allem inhaltlich-pädagogisch. Der Status als Schulversuch eröffnete die dafür erforderlichen Freiräume. Und so präsentiert sich die Integrierte Gesamtschule heute als Bildungsstätte mit moderner Kommunikation, mit unterschiedlichsten Formen der Freiarbeit ohne den Fachunterricht, auch den frontal praktizierten, außer Acht zu lassen. Dem jeweiligen Alter und der Individualität der Kinder Rechnung tragend wird Wissen vermittelt und werden soziale Kompetenzen entwickelt. „Wie gelingt es, den Unterricht methodisch so aufzubereiten, dass die Individualität der Schüler aufgefangen und möglichst vielen Genüge getan wird, ohne in Gleichmacherei zu verfallen?“ – mit dieser Fragestellung umreißt Bernd Wilhelm die tägliche pädagogische Herausforderung.
In der Bilanz nach 40 Lehrer- und Schulleiterjahren stehen unzählige schöne und bewegende Momente und nachhaltig wirkende Erlebnisse – seien es die ökologischen Ferienlager der von ihm zu Beginn seiner Lehrertätigkeit ins Leben gerufenen Umweltgruppe, in denen er mit Schülern über Jahre die Wasserqualität am Nordstrand und an der Gera analysierte, mit Booten nach Wasserpflanzen suchte, sie mikroskopierte oder an Flussfegen teilnahm. Oder sei es der letzte Schultag, an dem er von seinen Schülern mit verbundenen Augen auf den Schulhof geführt wurde und –nachdem er von der Augenbinde befreit war – sah, dass alle Schüler der Schule ein Spalier gebildet, sich versammelt hatten, um ihm ein eigens kreiertes eineinhalbstündiges Programm darzubieten. Sein Tag hatte mit der morgendlichen Lektüre der Tageszeitung begonnen, in einem Artikel veröffentlichten Schüler, Eltern und Kollegen ein von Menschen gebildetes Smiley und Dankesworte. Das hat ihn tief bewegt.
Und ja – es gab sie auch, die schwierigen, die kritischen Zeiten. Als vor einigen Jahren z.B. eine Schülerin die IGS einen Monat lang in Atem hielt mit per Mail versandten Drohungen, dass an der Schule eine Massaker verübt werde. Permanente Polizeipräsenz und eine große Verunsicherung ließen die Nerven bei Lehrern, Kindern und Schulleiter blank liegen. Auch das hat Spuren hinterlassen.
Trotzdem – sein Resümé ist eindeutig: „Für mich ist der Lehrerberuf etwas, in dem man sich als Mensch verwirklichen kann.“ Diese Hingabe ist in unserem fast zweistündigen, bewegenden Gespräch mit Dr. Bernd Wilhelm jederzeit spürbar. Auch jetzt noch – wo Schulhof und Flure kinderleer sind, weil Ferien sind und wo ihr Schulleiter und Wegbegleiter seinen Schreibtisch räumt.
Autor: B. Köhler Fotos: S. Forberg
„Für mich ist wichtig, dass die Schule weiter existiert und sich entwickelt, dass sie ihre Dynamik nicht verliert.“
„Der Lehrerberuf ist ein sehr schöner. Er braucht mehr gesellschaftliche Anerkennung, darf nicht kaputt geredet werden.“
Dankesworte, abgedruckt in der Thüringer Allgemeinen vom 29. Juni 2018, dem letzten Schultag: "Von Herzen bedanken sich Schülerschaft, Eltern und das Kollegium der IGS bei Ihnen. Sie haben die Schule mit viel Engagement und Enthusiasmus, Zeit, Kraft und Tatendrang erfolgreich durch mehrere Jahrzehnte geführt und damit eine Schule mit Rückgrat aufgebaut. Wir bedanken uns bei Ihnen und wünschen Ihnen mindestens genauso viel Energie - wie Sie für diese Leistung aufgebracht haben - für das, was jetzt kommt.“